CARTE BLANCHE

In Kooperation mit der Streaming-Plattform filmfriend.de, präsentieren wir in der Reihe Carte Blanche ein kuratiertes Filmprogramm. Dazu laden wir Regisseur*innen, Kino- oder Festivalmacher*innen sowie weitere kulturelle Akteur*innen ein, jeweils acht Filme aus dem Angebot der Online-Plattform auszusuchen. Die Auswahl ist den eingeladenen Gästen ohne inhaltliche Vorgaben überlassen.

Filmfriend ist die Film-Streaming-Plattform (Video-on-Demand-Angebot) der deutschen Bibliotheken und Büchereien. Der Log-in erfolgt über die Webseite von filmfriend.de. Die Nutzer*innen melden sich mit der Ausweisnummer ihres Büchereiausweises und ihrem Passwort an. Das Angebot ist kostenfrei und wird auch jenseits von Corona weitergeführt.

kuratiert von Michelle Koch

Michelle Koch ist seit Januar 2025 die Leiterin der dfi – Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW. Bevor sie die Stelle für 2024 zunächst kommissarisch übernahm, lebte und arbeitete sie mehrere Jahre in Wien als freiberufliche Autorin, Redakteurin und Programmgestalterin (u.a. für Filmfestivals und Kulturinstitutionen wie Berlinale, Viennale, Diagonale – Festival des österreichischen Films oder die Initiative Cinema Next – Junges Kino aus Österreich). Sie veröffentlichte wissenschaftliche und journalistische Beiträge in zahlreichen Publikationen, zuletzt gab sie die Anthologie „Österreich real. Dokumentarfilm 1981–2021″ heraus (mit A. Bachmann, Wien 2022). Seit September 2023 lebt sie mit ihrer Familie in Köln.


Procedere

DE 2015 | 42 Min. | R: Simon Quack

Ein Archivschrank in der Karlsruher Redaktion des Südwestrundfunks. Er enthält seit Jahrzehnten die gleichen Bilder: Rohmaterial für kurze redaktionelle Beiträge im Fernsehen für Nachrichten- und Magazinsendungen. Berichtet wird über Verfahren vor dem Bundesgerichtshof. Bilder von der Verhandlung selbst müssen fehlen. Denn die Verhandlungen des Gerichtes sind zwar meist öffentlich, doch Bild- und Tonaufnahmen von Prozesstagen sind in Deutschland nicht gestattet. Das Verbot gilt jedoch nicht für die Nebenschauplätze. Die Kamerapositionen bleiben immer die gleichen, die Fälle sind immer anders.


12 Tage

FR 2017 | 87 Min. | R: Raymond Depardon

Zwölf Tage – das ist die Frist, innerhalb derer in Frankreich ein Psychiatriepatient nach der Zwangseinweisung eine Anhörung vor Gericht bekommen muss, rund 90.000 Menschen durchlaufen im ganzen Land jährlich diese Prozedur. 
Für Film bekam der legendäre Regisseur und Fotograf Raymon Depardon als erster Filmemacher überhaupt Zugang zu diesen Verfahren und dokumentierte zehn Fälle in einer Klinik in Lyon. Die Kamera agiert sensibel und wahrhaftig, konzentriert sich auf die Patientinnen und Patienten oder nimmt die richterliche Instanz in den Blick. Die Sachlichkeit der Methode ist erhellend und hilft der Empathie des Zuschauers auf die Sprünge: In seltener Klarheit sieht man den großen Schmerz, der allen psychischen Erkrankungen zugrunde liegt. 

12 TAGE zeigt Depardon abermals als meisterhaften Beobachter und großen Humanisten des dokumentarischen Kinos. Der Film wurde als Spezialvorführung auf den 70. Internationalen Filmfestspielen von Cannes gezeigt.


René

CZ 2008 | 84 Min. | R: Helena Třeštíková

Mit unverfälschter Authentizität erzählt der Dokumentarfilm die schier unglaubliche Geschichte von René, der seit seinem 17. Lebensjahr von einer Filmkamera auf seinem Weg zwischen Gefängnissen und kurzen Phasen der Freiheit begleitet wird. Die Zeit seiner Verwandlung vom Jugendlichen zum erwachsenen Mann wurde von Helena Třeštíková vor dem Hintergrund bedeutender politischer Veränderungen in Mitteleuropa aufgezeichnet.

Renés Geschichte beginnt im Gefängnis unter sozialistischen Bedingungen, setzt sich während der Samtenen Revolution fort und findet ihren (vorläufigen) Abschluss mit der Amnestie des damaligen Präsidenten Václav Havel. Doch schon bald kehrt René ins Gefängnis zurück, als Gefangener in die Europäische Union. Während seiner Jahre hinter Gittern, hauptsächlich wegen Diebstahls, lässt er sich am ganzen Körper tätowieren, bricht aus dem Gefängnis aus, wird gefasst, veröffentlicht zwei Romane, raubt die Wohnung der Regisseurin Třeštíková aus, hat zwei Liebesgeschichten, erkrankt an Multipler Sklerose und wird von Psychologen als überdurchschnittlich intelligent eingestuft. Seine Weltanschauung demonstriert René durch die ungenau geschriebene Tätowierung „Fuck of people“, die seinen Hals „ziert“.


Jetzt oder Morgen

AT 2020 | 90 Min. | R: Lisa Weber

Claudia ist auf der Flucht. Auf der Flucht vor Verantwortung, auf der Flucht vor Entscheidungen. Mit 14 wurde sie schwanger; mittlerweile geht ihr Sohn Daniel längst in den Kindergarten. Daniel dient Claudia als Ausrede dafür, warum sie auch mit Anfang 20 weder die Schule abgeschlossen noch sich je eine Arbeit gesucht hat.

Claudia und ihr Sohn wohnen in der Gemeindewohnung von Claudias Mutter Gabi. Auch Claudias Bruder Gerhard lebt noch dort. „So viel Zeit und kein Leben,“ fasst Gerhard die Situation der Familie zusammen. Keiner der drei Erwachsenen im Haushalt ist erwerbstätig. Smartphones, Fernsehen und Computerspiele vertreiben die Zeit. Und manchmal Karaoke. Ein Song von Mariah Carey und Whitney Houston gehört zu Claudias Lieblingsliedern. Darin heißt es: „Who knows what miracles you can achieve / When you believe. / Somehow you will, you will when you believe.“

Doch Claudia scheint eben nicht zu glauben. Und noch weniger zu tun. In Gedanken baut sie Luftschlösser. In der Realität hat sie Angst, den ersten Schritt zu tun. Als sie mit ihrem Sohn zu ihrem neuen Freund Marvin zieht, der eine Ausbildung absolviert, keimt Hoffnung auf, dass sie es schafft, aktiv zu werden.


Eisenzeit

DE 1992 | 90 Min. | R: Thomas Heise

Wäre es nach dem Regisseur Thomas Heise gegangen, wäre dieser Film über die Eisenhüttenstädter Mario, Tilo, Karsten und Frank schon 1981 entstanden. Es sollte ein Film über Jugendliche werden, die in der ersten sozialistischen Stadt der DDR aufgewachsen waren. Geboren in den 1960er Jahren, stammten Mario, Tilo, Karsten und Frank sämtlich aus DDR-staatstreuen Familien. Sie zur zweiten Generation der DDR, die der Lyriker Uwe Kolbe einmal die „Hineingeborenen“ nannte.

Doch weil die Jungs lange Haare trugen und das Leben auf ihre eigenen Weise entdecken wollte, passten sie nicht in das Bild, dass die DDR-Oberen von der Jugend ihres Landes hatte. Alle vier gerieten in schwerste Konflikte mit Staat, Gesellschaft – und mit ihren autoritären Eltern. Besonders mit ihren Vätern, die allesamt Gewalt für ein legitimes Erziehungsmittel hielten.

Dass Thomas Heise (Jg 1955) diesen Film zu DDR-Zeiten nicht realisieren konnte, war ebenfalls ein Ausdruck des DDR-Generationenkonflikts. „Sie machen nicht diesen Film,“ beschied ein leitender Mitarbeiter des staatlichen DDR-Studios DEFA kurz und knapp. „Es ist aus Gründen der Staatsdisziplin.“

10 Jahre später gab es die DDR nicht mehr und der Film konnte entstehen. Zwei der vier jungen Männer waren da jedoch bereits tot. Einmal mehr hatte sich das Diktum des ostdeutschen Schriftstellers Thomas Brasch bewahrheitet: „Vor den Vätern sterben die Söhne.“


Kronen Zeitung: Tag für Tag ein Boulevardstück

BE / AT 2002 | 58 Min. | R: Nathalie Borgers

Österreich verdankt diesem Film über das auflagenstärkste Blatt des Landes und seinen mächtigen Chefredakteur Hans Dichand zwei geflügelte Worte: Wer „seinen Hund streichelt“ oder „einen Gugelhupf essen geht“, der übt Macht aus und macht seinen Einfluss geltend. Nur dass es dabei nicht um direkte Macht geht, die man abwählen könnte – sondern um indirekte Einflussnahme.

Die Regisseurin Nathalie Borgers zog vor etwas mehr als 20 Jahren aus, um das Erfolgsgeheimnis der „Kronen Zeitung“ zu ergründen. Sie dokumentierte eine Zeit, in der noch gedruckte Zeitungen den Markt beherrschten. Auflage machte man allerdings schon damals mit dem, was auch in Zeiten von social media Reichweite bringt. Tiere zum Beispiel. Und die Nackte auf der Titelseite – ein Trend, den Dichand aus anglophonen Ländern übernahm und dem lokalen Markt anpasste.

Die Mischung der Themen unter Dichand senior bestand aus populistischen Klassikern: Immigrantionskritik, Heimatliebe, Tierschutz, Elitenbashing und jede Menge Kümmerer-Elemente. Stil und Inhalt der Zeitung spielen mit menschlichen Urinstinkten wie der Angst vor dem Anderen, dem Gegensatz zwischen Gut und Böse und dem Gefühl der Ohnmacht einfacher Menschen in der politischen Arena. Mit Vereinfachung und Liebedienerei gegenüber der Leseschaft bündelte die „Krone“ von Dichand senior die Macht ihres Publikums, um mit orchestriertem Kampagnenjournalismus Politik zu beeinflussen.


Jenseits des Krieges

AT 1996 | 113 Min. | R: Ruth Beckermann

Weißgekachelte Räume, Neonlicht, an den Wänden Schwarzweiß-Photographien der Ausstellung Vernichtungskrieg über die Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront. Vor diesem Hintergrund drehte Ruth Beckermann eine Anhörung ehemaliger Soldaten über ihre Erlebnisse jenseits des normalen Krieges. Ein kompromissloser Film über Erinnerung und Vergessen.

„Zwei beklemmende Stunden dauert Ruth Beckermanns Dokumentation über Hitlers Kriegsveteranen: Zwei Stunden über Feigheit, Schwäche, Ignoranz, über Mitläufer und unbelehrbare Täter, zwei Stunden über eine verschwindende Minderheit, die nicht nach blindwütigen Ausreden sucht, zwei Stunden über eine Generation, die vor sich selbst in eine kollektive Amnesie geflüchtet ist.“ (Hubertus Czernin, 1996)


Tod und Teufel

SE / DE 2009 | 55 Min. | R: Peter Nestler

In „Tod und Teufel“ porträtiert der Dokumentarfilmer Peter Nestler seinen Großvater Eric von Rosen (1879-1948). Als Fotograf unternahm Rosen Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Forschungsreisen nach Südamerika und Afrika. Durch seine ausführlichen Berichte und Fotos wurde er zu einem wichtigen Chronisten der eingeborenen Stämme, deren Kultur durch den Kolonialismus vernichtet zu werden drohte. Nach seinen Reisen beteiligte sich von Rosen ab den 1930er-Jahren als Antisemit an einer Vereinigung schwedischer Nazigruppen. Ab 1938 zog er sich aus der öffentlichen Diskussion zurück.

Peter Nestler, der schon in anderen Dokumentarfilmen die Hintergründe für die Entstehung von Rassismus und die Gründe für den Holocaust untersucht hat, nähert sich dem Thema in diesem Film aus einem sehr persönlichen Blickwinkel.


CARTE BLANCHE ANNA ZAMECKA

CARTE BLANCHE FLORIAN DETERDING

CARTE BLANCHE JAN WAGNER

CARTE BLANCHE JAN BONNY

CARTE BLANCHE DETLEF WEINRICH

CARTE BLANCHE MELISSA DE RAAF

CARTE BLANCHE JASMIN PREISS

CARTE BLANCHE CIS BIERINCKX

CARTE BLANCHE CATHERINA CRAMER

CARTE BLANCHE WOLFGANG M. SCHMITT

CARTE BLANCHE STEPHAN MACHAC

CARTE BLANCHE KATRIN MUNDT

CARTE BLANCHE OLAF KARNIK

CARTE BLANCHE FRANZ MÜLLER

CARTE BLANCHE ALEXANDER SCHOLZ


Alle Bilder ©filmfriend.de